03.05.2023

Delhi: Auf der Suche nach dem Kulturschock in Indien (56)

Indien Teil 1: Eine Woche auf Streifzügen durch Delhi

Und plötzlich ist es Indien

Nach 3.5 Monaten in Zentralasien wurde es für uns Zeit weiterzuziehen, denn es wurde langsam kalt und wir fühlten uns bereit für eine neue Kultur. Ursprünglich planten wir von Zentralasien via China und den berühmten Karakorum Highway nach Pakistan und anschliessen nur «kurz» durch den Nordwesten Indiens weiter nach Nepal zu reisen. Doch die Grenze nach China blieb geschlossen und da der Norden Pakistans im Winter zu kalt ist, entschieden wir uns, alles neu zu planen und uns für Indien viel mehr Zeit als gedacht zu nehmen, denn warum plötzlich alles beschleunigen, um möglichst schnell nach Südostasien zu kommen? Wir hätten ja auch von Taschkent aus direkt nach Bangkok fliegen und dort unsere Reise fortsetzen können. Auch wenn wir diese Variante kurz diskutiert haben, wird schnell klar, das stimmt für uns nicht mehr. Wir haben uns so viel Zeit in der Türkei, dem Kaukasus und im Iran genommen, nun möchten wir dieses verlangsamte Art des Reisens beibehalten und uns richtig auf Indien einlassen. Denn anders lässt sich Indien auch gar nicht erleben, ohne sich komplett mit Haut und Haaren und allen Sinnen darauf einzulassen und sich mitreiben zu lassen vom täglichen Wahnsinn im zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde (1.43 Milliarden Einwohnern) und der grössten Demokratie der Welt in der die Unterschiede zwischen reich und arm brutal aufeinanderprallen. Unser nächstes Reisekapitel heisst somit Incredible India und uns erwartet der komplette Gegensatz zu den ruhigen Strassen und Naturlandschaften Zentralasiens.

Keine Angst, Indien ist nicht überall so hektisch wie in Old Delhi
Keine Angst, Indien ist nicht überall so hektisch wie in Old Delhi
Farbenfrohes Indien
Farbenfrohes Indien
Typisch Indien: An jeder Ecke passieren gefühlt 1000 Dinge gleichzeitig
Typisch Indien: An jeder Ecke passieren gefühlt 1000 Dinge gleichzeitig

Der indische Subkontinent ist riesig und vereint so viele unterschiedliche Facetten von der Hochgebirgswüste im buddhistisch geprägten Ladakh, den Teeplantagen Darjeelings, den IT-Metropolen, über die Forts und Wüsten Rajasthans, zu den farbenfrohen Tempelstädten Südindiens bis zum tropischen Kerala mit den entspannten Backwaters und den Stränden Goas. Und da wäre da noch der kulturell sehr interessante Nordosten Indiens, die Jain-Tempel und Salzwüsten Gujarats, die spirituelle Stadt Varanasi am Ganges, die unbekannte Inselwelt der Lakkadiven und so weiter…Ihr merkt es, für die Erkundung Indiens reicht eine Lebenszeit nicht und erst recht nicht unser Visum, denn obwohl wir dank unseren Austauschpässen in der Schweiz ein Ganzjahresvisum für Indien beantragen konnten, dürfen wir jeweils nur 90 Tage am Stück im Land bleiben. Somit sind unserem Aufenthalt in Indien klare Grenzen gesetzt und allzu viel liegt gar nicht drin. Das bedeutet wir müssen ziemlich viel planen, damit wir möglichst viel von Indien mitnehmen können in diesem sehr begrenzten Zeitraum. Schnell wird klar, wir werden nur wenige Strecken in Indien mit dem Fahrrad fahren, das Land ist zu gross, es ist zu bevölkert und zu anstrengend, damit dies eine Freude wäre. Was wir aber nicht wissen konnten, ist wie sehr die Reise durch Indien eine Reise zu uns selbst werden wird, in der wir viel dazu lernen und uns und unsere Reise nochmals vertiefter reflektieren werden.

Noch ganz am Anfang unserer Reise durch Indien
Noch ganz am Anfang unserer Reise durch Indien

Hat sich der Kulturschock im Smog aufgelöst?

Von all dem ahnen wir jedoch noch nichts, als wir am 04.11 mitten in der Nacht von Taschkent nach Delhi fliegen und im Morgengrauen unter einem dicken Smoghimmel landen, der uns die restliche Zeit in Delhi begleiten würde. Auch wenn die Luft das ganze Jahr extrem verschmutzt ist, so erreichen die Smogwerte diesen November einen traurigen und alarmierenden Höchststand, bedingt durch das Abbrennen der Felder und die vielen Feuerwerke zum Lichterfest Diwali. Wir werden von nun an bei schwülen Temperaturen von einem grauen Schleier begleitet, der uns das Atmen erschwert und jegliche eigentlich schönen Fotomotive zerstört.

Knapp 33 Millionen Menschen leben in Delhi zwischen mittelalterlichen Gebäuden, hektischen Basaren, modernen Bürogebäuden und Armenvierteln. Delhi ist Chaos und Reizüberflutung pur und definitiv nicht der ideale Einstieg für eine Indienreise. Wer sich durch Old Delhi bewegt, braucht entweder eine tiefere innere Ruhe, Nerven aus Stahl oder wenigstens Ohrstöpsel. Es ist schmutzig, laut, hektisch und das Gegenteil von entspannend und die meisten Leute würden wohl so schnell wie möglich das Weite suchen, doch wir sind mittendrin und lächeln zufrieden.

Aussicht von der Jama Masjid über den Smoghimmel der Altstadt
Aussicht von der Jama Masjid über den Smoghimmel der Altstadt
Mitten im Chaos und völlig zufrieden mit einer Tasse Chai
Mitten im Chaos und völlig zufrieden mit einer Tasse Chai

Ein Widerspruch in sich. Doch wir sehen so vieles dazwischen neben all dem Negativen. Da wären die vielen Farben überall, das breite Lächeln der Menschen (ist Indien das eigentliche «Land des Lächelns»?), die schönen Parks und Mogulmonumente Delhis, die Vielfalt dieser Metropole und natürlich immer wieder der süsse Chai und das indische Essen, was für uns nach Zentralasien eine besondere Freude ist. Zudem haben wir schon lange nicht mehr so viele Tiere in einer Stadt gesehen, in den Parks hängen Flughunde in den Bäumen, Adler ziehen ihre Bahnen am Himmel, Affen balancieren über den Flickenteppich aus Stromkabeln in den engen Gassen und überall sind putzige Streifenhörnchen auf der Suche nach Essen. Wir sind positiv von Delhi überrascht, auch wenn von aussen betrachtet alles dagegenspricht. Was ist nur mit uns los, wo bleibt der bekannte indische Kulturschock?

Ganz normaler Alltag in Old Delhi
Ganz normaler Alltag in Old Delhi
Stets werden wir mit einem Lächeln begrüsst, auch an sehr touristischen Orten
Stets werden wir mit einem Lächeln begrüsst, auch an sehr touristischen Orten

Klar haben wir im Voraus viel über Indien gelesen, wussten wenigstens theoretisch was auf uns zukommt und zudem war ich vor 16 Jahren bereits einmal für mehrere Monate alleine in Indien, doch trotzdem müsste bei uns doch irgendwas passieren und dieses unglaublich kontrastreiche Land fremd anmuten. Doch es tut es nicht. Der tägliche Wahnsinn des indischen Alltags wirkt normal auf uns und nicht fremd und exotisch. Wir finden keine Antwort auf diesen eigentlichen Widerspruch, ausser, dass wir schon so lange unterwegs sind und mehrheitlich über Land reisen. Das Fremde hat dadurch langsam seine Andersartigkeit verloren, man vergleicht nicht mehr zwischen dem eigenen Land und dem neuen Land, man konzentriert sich mehr auf Gemeinsamkeiten statt auf Unterschiede. Das Neue wird nicht mehr gleich bewertet und kritisch hinterfragt wie zum Anfang einer Reise, sondern vermehrt akzeptiert.

Und falls ihr jetzt gleich Stopp rufen möchtet, da in Indien (wie in vielen anderen Ländern auch) ganz vieles nicht in Ordnung ist, geben wir euch recht. Natürlich gibt es gewisse Dinge, die wir trotz unserem neuen Werteverhalten nicht akzeptieren können wie die sozialen Missstände, die Umweltverschmutzung, das Kastensystem oder die Diskriminierung von Frauen und Religionsgemeinschaften. Auch das ist Indien, eben nicht nur schöne Farben und der Duft von Gewürzen in der Luft, sondern auch eine unglaubliche Ungerechtigkeit und eine Armut, die allgegenwärtig ist und uns in Delhi auf Schritt und Tritt begleitet. Doch trotz alldem fehlt der Kulturschock.

So wie man einen Kulturschock wohl nicht rational erklären kann, können wir unseren fehlenden Kulturschock (dafür müsste man eigentlich ein neues Wort erfinden) auch nicht logisch erklären. Es hat sich wohl eine gewisse Tiefenentspannung gegenüber allem Neuen und allem Unvorhergesehenen bei uns breit gemacht. Gute Grundvoraussetzungen eigentlich für die kommenden Monate und vor allem auch für Delhi. Uns gefällt Delhi besser als erwartet und daher möchten wir euch unsere Eindrücke dieser Stadt nicht vorenthalten. Los geht’s mit der grössten Stadt, die wir je besucht haben.

Delhi bietet überraschend viele stimmungsvolle Ecken
Delhi bietet überraschend viele stimmungsvolle Ecken

Dilli Dilli: Stadt der Städte

Bevor Delhi zu der Stadt wurde, die sie heute ist, gab es früher schon mindestens sieben wichtige Städte, wovon in der ganzen Stadt noch alte Ruinen zeugen, die teilweise mitten in Wohngebieten und teilweise in grosszügigen Parkanlagen als stille Zeitzeugen dastehen. Aufstieg und Fall begleiten die Geschichte der Stadt, welche von Epoche zu Epoche neu erobert, vernichtet und wiederaufgebaut wurde. Der Ursprung der Stadt geht auf das Jahr 736 n. Chr. zurück, als die Rajputen das erste Delhi erbauten. Ende des 12. Jahrhunderts beendeten muslimische Truppen die Herrschaft der Hindus und unter den Moguln erlebte Delhi im 16. Jahrhundert eine Blütezeit und es entstanden viele bemerkenswerte und monumentale Gebäude wie das Rote Fort oder die Jama Masjid Moschee. Einer der bekanntesten Moguln war Shah Jahan, der Erbauer des Taj Mahals in Agra, und unter dessen Ära auch in Delhi viele schöne Gebäude entstanden. Auf die muslimischen Moguln folgten die Briten, welche 1911 die Hauptstadt von Kalkutta nach Delhi verlegt haben und damit den Grundstein legten für Neu-Delhi, die achte Stadt. Die Reisbrettstadt mit den vielen Grünflächen und breiten Alleen ist bis heute der zentrale Regierungssitz Indiens. Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 is Neu-Delhi offiziell die Hauptstadt des Landes.

Eingang zum Roten Fort, einem UNESCO-Weltkulturerbe
Eingang zum Roten Fort, einem UNESCO-Weltkulturerbe
Die Jama Masjid ist die grösste Moschee Indiens und wurde von Shah Jahan erbaut
Die Jama Masjid ist die grösste Moschee Indiens und wurde von Shah Jahan erbaut
Auf den Spuren der 300-jährigen Mogulherrschaft
Auf den Spuren der 300-jährigen Mogulherrschaft
Das India Gate ist ein Wahrzeichen von Neu-Delhi und überaus beliebt
Das India Gate ist ein Wahrzeichen von Neu-Delhi und überaus beliebt

Je nach Stadtviertel, in dem man sich gerade befindet, erhält man einen komplett anderen Eindruck der Stadt, denn zwischen den einzelnen Vierteln liegen Welten. Während sich rund um unser kleines Hotel (empfehlenswert: Colonel’s Retreat) im Süden Delhis ruhige baumbestandene Gassen mit Häusern der oberen Mittelklasse befinden, sieht man noch weiter südlich in sich geschlossene Villenviertel und teure Wagen. Ein paar Metro-Stationen weiter rund um den Nizamuddin-Schrein, herrscht eine extrem hohe Bevölkerungsdichte, Fliegen umschwirren das unappetitlich aussehende Fleisch vor den Metzgereien und Ratten rennen durch die Gassen. Entlang der Strassen sehen wir Menschen, welche auf dem Trottoir unter Kartons schlafen oder unter Brücken hausen und Kinder betteln bei den Autofahrern, die im ewigen Delhi-Stau feststecken.

Siedlung Defense Colony im Süden Delhis
Siedlung Defense Colony im Süden Delhis
Ein Mädchen bettelt bei den Touristen in der Fahrradrikscha
Ein Mädchen bettelt bei den Touristen in der Fahrradrikscha

Wieder eine Metro-Station weiter am Hauz Khas oder am Khan Market flanieren elegant gekleidete Inder:innen, die in den teuren Restaurants essen gehen und ihre Ferien nicht mehr in den Hill Stations im Himalaya verbringen, sondern in Europa und Amerika. Wie ihr seht, gibt es nicht DAS Delhi, sondern gefühlt Tausende von Varianten von Delhi und Tausende von Varianten wie man die Stadt erlebt und wahrnimmt. Viele Wohngebiete sind unterteilt in sogenannte «Colonies», die für sich wie eine eigene kleine Stadt anmuten mit Metro-Stationen, einem eigenen Zentrum mit Supermärkten, Restaurants und klar definierten Wohnvierteln. Man wohnt sozusagen in einer Stadt in der Stadt und in seinem eigenen Mikrokosmos.

Typisch Delhi - neuere Apartments neben Mogulbauten in Hauz Khas
Typisch Delhi - neuere Apartments neben Mogulbauten in Hauz Khas
Am Khan Market reihen sich teure Restaurants und Boutiquen aneinander
Am Khan Market reihen sich teure Restaurants und Boutiquen aneinander

Es lohnt sich sehr, sich mehrere Tage Zeit zu nehmen, um Old Delhi, Neu-Delhi und den Süden der Stadt kennenzulernen und so ein vollständigeres Bild dieser Millionenstadt zu erhalten. Die beste Art sich in der Stadt fortzubewegen ist übrigens mit der Metro, denn sonst steht man möglicherweise stundenlang im Stau. Die Metro ist überaus günstig, effizient und deckt die ganze Stadt ab. Von den Metro-Stationen nimmt man dann jeweils ein Taxi für grössere Strecken oder eine Rikscha für kürzere Distanzen. Vom Süden der Stadt in den Norden kann man es dank der Metro beispielsweise in nur einer Stunde schaffen. Wir nehmen uns eine Woche Zeit und erkunden jeden Tag ein anderes Viertel und die Eindrücke könnten nicht unterschiedlicher sein.

Die Fahrradrikschas werden rege von den Einheimischen genutzt
Die Fahrradrikschas werden rege von den Einheimischen genutzt

Street-Food-Tour in den engen Gassen von Chandni Chowk

Kein Besuch von Delhi ist vollständig ohne ein Ausflug nach Old Delhi, das im 17. Jahrhundert Shahjahanabad heisst. Hier ist es vorbei mit Prachtstrassen und weiten Plätzen, stattdessen staut sich die Hitze in den Gassen und man ist von ohrenbetäubendem Lärm und nervtötendem Dauergehupe umgeben. Das ist das Delhi, das man sich wohl vorstellt. Zahlreiche Religionen sind hier vertreten und innerhalb weniger Meter besuchen wir einen Jain-Tempel, einen Sikh-Tempel, einen Hindu-Tempel und eine Moschee. Wir sind unterwegs in der historischen Hauptstrasse des alten Delhis, dem Chandni Chowk, einem grossen Marktareal mit dem Khari Baoli, dem grössten Gewürzmarkt Asiens, der sogar die Migros beliefert. In einem Hinterhofviertel werden hier Grossmengen an Gewürzen verkauft und überall steigt einem der beissende Geruch von Chilis in die Nase.

Ein Sikh vor einem Gurdwara (Sikh-Tempel)
Ein Sikh vor einem Gurdwara (Sikh-Tempel)
Das Marktareal Chandni Chowk (Old Delhi) wurde erst im 17. Jahrhundert von den Moguln erbaut
Das Marktareal Chandni Chowk (Old Delhi) wurde erst im 17. Jahrhundert von den Moguln erbaut

Es passiert so viel auf einmal, dass man sich kaum auf die einzelnen Angebote konzentrieren kann. Hier heisst es nur Atemmaske anziehen und durchlaufen und sich vom Gedränge mittreiben lassen. Biegt man von der Hauptstrasse ab, wird es immer enger und dunkler in den Gassen und über uns befinden sich Kabel- über Kabelreihen und nur noch wenige Sonnenstrahlen treffen auf den Boden. Autos dürfen hier keine mehr durch, dafür jedoch Fahrradrikschas die oftmals von abgemagerten alten Männer gefahren werden und sich überall durchwursteln können, auch wenn wir dabei oftmals den Atem anhalten und mitleiden. Zwischen den Kühen, den Fahrradrikschas und den ganzen Fussgängern muss man aufpassen, dass man nicht noch von einem der vielen Zubringer angerempelt wird, die mit ihren Schubkarren die Gewürze durch das Gewusel manövrieren oder gleich einen ganzen Laden mit Ware / Waage und Kasse auf ihrem Kopf balancieren. Es gibt nichts anderes, als sich in das ganze Gewusel einzufügen und sich vom Strom mitreissen zu lassen.

Die Seitengassen links und rechts vom Chandni Chowk sind nach Warenangebot unterteilt, da gibt es die «bling bling-Strasse», welche glitzernde Bordüren für Saris verkauft und eine Strasse weiter finden sich die aufwendigen Hochzeitssaris. Dann werden die Strassen wieder breiter und die Leute stauen sich vor den Street-Food-Ständen, die sich teilweise seit über 100 Jahren an diesem Standort befinden und oftmals nur ein Gericht anbieten, das aber so aussergewöhnlich gut schmeckt, dass die Menschen dafür Schlange stehen. Wir tun es den Einheimischen gleich, denn wir befinden uns auf einer Street Food Tour durch Old Delhi und das gleich an unserem zweiten Tag Indien, um unser Immunsystem gleich Mal auf die indische Küche einzustellen. Sprung ins kalte Wasser mit Anleitung sozusagen.

Während vier Stunden schlängeln wir uns durch die Gassen und probieren die unterschiedlichsten Gerichte, deren Namen allesamt exotisch klingen. Vergesst Samosas, wir probieren Jalebis, Dahi Bhalla, Daulat Ki Chaat, Pani Puri und Rabri. Wir essen für uns völlig neue Geschmackskombinationen. Da wären in Sirup getränkte Weizenmehlkringel, frittierte Linsenkuchen in Joghurtsauce, Milchpudding mit Mandeln und Pistazien oder frittierte Kartoffelpatties in einer Tamarinden-/ Granatapfelsauce. Alles neu, alles spannend und wir mittendrin kurz vor einem Food-Koma.

Und als wir schon fast platzen, geht es in die Parantha Wali Gali, die Parantha-Strasse. Hier werden von allen Lokalen nur Paranthas angeboten, frische Fladenbrote, welche mit Blumenkohl, Kartoffeln oder Spinat gefüllt und mit Minzsauce, Kürbiscurry und Bananen-Tamarindensauce serviert werden. Delhi ist das Street-Food-Paradies schlechthin und wir können eine solche Tour nur wärmstens empfehlen. Als Abschluss gibt es für uns noch Paan, Betelnussblätter, welche mit süssen und pikanten Zutaten gefüllt und als kleines Päckchen in die Backen genommen und langsam gekaut werden, was gut für die Verdauung sein soll und dank der Minzpaste darin auch für frischen Atem sorgt. So können wir uns bedenkenlos wieder in den stetigen Pendlerstrom der Metro mischen und in unsere ruhige Wohngegend zurückfahren.

Empfehlenswerte Food Tour mit "A Chef's Tour"
Empfehlenswerte Food Tour mit "A Chef's Tour"
Daulat Ki Chaat - ein traditionelles Dessert mit aufgeschäumter Milch, Trockenfrüchten, Safran und Zucker
Daulat Ki Chaat - ein traditionelles Dessert mit aufgeschäumter Milch, Trockenfrüchten, Safran und Zucker

Die andere Seite Delhis: Auf einem Rundgang mit ehemaligen Strassenkindern

An unserem vierten Tag in Delhi und nach etwas klassischem Touristenprogramm mit rotem Fort und Connaught Plaza geht es für uns erneut in die Altstadt, um eine andere Seite der Stadt kennenzulernen. Wir unternehmen eine Tour mit der Stiftung Salaam Baalak welche von der Regisseurin Mira Nair vom preisgekrönten Film Salaam Mumbai im Jahr 1988 gegründet wurde. Sie arbeitete für den Film mit Laienschauspielern von der Strasse zusammen und dadurch entstand die Idee für die NGO. Mittlerweile gibt es mehrere Gebäude in Delhi, in welchen Jungen und Mädchen eine Schulbildung, ein Dach über dem Kopf, regelmässige Mahlzeiten und vor allem einen sicheren Ort für ihre Entwicklung erhalten. Wenn sie möchten können sie als Erwachsene als Reiseleiter ein Einkommen verdienen. Einige der Kinder und Jugendlichen hier sind Waisen, aber noch lange nicht alle. Viele sind von ihren Familien weggelaufen, da sie zu harter körperlicher Arbeit gezwungen wurden und ihnen eine Ausbildung verwehrt blieb. Auch heute noch verkaufen arme Familien auf dem Land ihre Kinder an entfernte Verwandte in den Städten, die ihnen einen gut bezahlten Job und finanzielle Sicherheit für die Familien versprechen (siehe auch Weltspiegel-Doku: Indiens Kindersklaven). Die Familien haben oft keine Ahnung, wo ihre Kinder wirklich landen, oder sie wollen es in manchen Fällen wohl auch gar nicht wissen. Umso erstaunlicher ist es, dass einige der Kinder später ihren Eltern nichts nachtragen, weiterhin Kontakt zu ihnen haben, sie finanziell unterstützen oder sogar wieder bei ihnen leben. Aktuell soll es mehr als 2 Millionen Strassenkinder in Indien geben und die Zahl steigt leider aufgrund der Pandemie und der Zunahme an Waisen und verlassenen Kindern.

Tour mit Sanju vom Salaam Baalak Trust
Tour mit Sanju vom Salaam Baalak Trust

Unser junger Reiseleiter aus Delhi heisst Sanju und erzählt uns seine Geschichte. Er lief in jungen Jahren von seiner Familie fort und landete auf der Strasse, wo er mit anderen Strassenkindern versuchte zu überleben. Gegen die Grausamkeit der Stadt half ihm Klebstoff, denn Schnüffeln betäubt den Schmerz. Ein Sozialarbeiter wurde auf ihn aufmerksam und schickte ihn mit noch nicht mal 10 Jahren in einen Entzug. Anschliessend konnte er bei der Salaam Baalak Stiftung unterkommen. Nun arbeitet er als Reiseleiter, hat wieder Kontakt zu seiner Familie und hat nun selber eine kleine Tochter.

Dank Sanju erkunden wir Ecken von Chandni Chowk, die wir alleine nie gefunden und wohl schon gar nicht betreten hätten. Wir laufen durch enge, dunkle Gassen, die oftmals nicht mal kuhbreit sind. Er zeigt uns zahlreiche Handwerksbetriebe, beispielsweise eine Gasse, in welcher alle nur Ordner herstellen, die einen Betriebe pressen den Karton und an einem anderen Ort werden die Löcher gestanzt. Dazwischen immer wieder kleine Tempelanlagen, die nachmittags geschlossen werden, damit auch die Götter eine Ruhepause haben. Bilder von Göttern an den Wänden sollen die Wand vor Pinklern und Paan-Kauern schützen, welche den roten Saft gerne an die Mauern spucken.

Mit Sanju zusammen tauchen wir tief in das Gassenlabyrinth ein
Mit Sanju zusammen tauchen wir tief in das Gassenlabyrinth ein
Götterbilder sollen die Wand beschützen
Götterbilder sollen die Wand beschützen

Wir betreten auch einige alte und oftmals heruntergekommene Havelis. Diese einst schönen Wohnhäuser der Stadt bildeten eine eigene kleine Welt mit Innenhöfen, Lustgärten und einladenden Privatgemächern mitten im Durcheinander aus Gassen und Märkten. Heute zerbröckeln die schönen Fassaden, die Innenhöfe werden als Parkplätze, Abfallhalden, Toiletten benutzt und Kühe und Ziegen spazieren ein und aus. In einem dieser alte Havelis arbeiten Männer an den aufwendigen Bordüren für Festsaris. Alle sind bei dieser Arbeit barfuss und arbeiten mit höchster Präzision. Im Innenhof vor ihrem Arbeitsplatz gibt es auch einen kleinen Schrein, der aber nicht einer bestimmten Gottheit geweiht ist, sondern jeder bringt hier sein eigenes Götterbild mit und nimmt es danach wieder mit. Bring your own God sozusagen.

Links: Kleine Ladenfläche / Rechts: ein reich verziertes Haveli
Links: Kleine Ladenfläche / Rechts: ein reich verziertes Haveli

Als Abschluss der Tour besuchen wir den Salaam Baalak Trust und lernen ein paar der Jungen kennen, die hier gerade leben. Sie scheinen fröhlich, ausgelassen und dem Alter entsprechend frech und vorwitzig zu sein. Sie wirken wie normale Kinder und Teenager. Fotografieren ist hier natürlich nicht erlaubt, um die Anonymität der Jungen zu wahren. Wir reisen ab mit einem positiven Gefühl und sind dankbar, konnten wir durch die Tour einen tieferen Einblick in die Lebenswelt anderer erhalten.

Kontraste überall: Mogulbauten, grosszügige Parks und Hipster-Enklaven

Während unserer Zeit in Delhi widmen wir uns zwar am liebsten unserer Lieblingsbeschäftigung in Indien – dem Probieren neuer Gerichte; doch dazwischen unternehmen wir auch Streifzüge durch Neu-Delhi und Süd-Delhi und begeben uns dabei auf die Spuren der 300-jährigen Mogulherrschaft. Überall in der Stadt verteilt liegen die roten Mogulbauten, Forts und Mausoleen. Wir erahnen vor dem Humayun Mausoleum die Schönheit vom Taj Mahal und entdecken die Festung Purana Qila, die vom besagten Humayun im 16. Jahrhundert erbaut wurde. In der gleichen Zeit wurde auch das weniger oft besuchte Safdarjung-Mausoleum erbaut. Die Verzierungen und Details erinnern uns an den Iran und Zentralasien und erneut werden uns die Gemeinsamkeiten der bereisten Gegenden bewusst. Doch dies macht sich nicht nur in der Architektur bemerkbar, sondern auch in der Küche. So soll der Grossmogul Babur aus Zentralasien solch eine Sehnsucht nach seinen geliebten usbekischen Melonen gehabt haben, dass er sie bei seinen Feldzügen nach Indien einführte und erfreut war, dass sie hier auch gedeihen. Wir sind ihm dankbar, denn so ein frischer Melonensaft ist in der Hitze Indiens immer eine willkommene Erfrischung.

Schon von weitem sieht man auch heute noch das epochale rote Minarett Qutub Minar, das mit seinen 73 Metern Höhe als höchster Backsteinturm der Welt gilt. Ein Brite hat das UNESCO-Weltkulturerbe zwar mal bloss als Schornstein bezeichnet, aber wir finden das massive Bauwerk mit seinen schönen Gravierungen ziemlich imposant.

Mit dem Bau des Qutub Minar wurde im 12. Jahrhundert begonnen
Mit dem Bau des Qutub Minar wurde im 12. Jahrhundert begonnen
Details beim Minarett Qutub Minar
Details beim Minarett Qutub Minar
Im naheliegenden Mehrauli-Park finden sich weitere Monumente der Mogul-Zeit
Im naheliegenden Mehrauli-Park finden sich weitere Monumente der Mogul-Zeit
Das eindrückliche Humayun-Mausoleum soll als Vorlage für den Taj Mahal gedient haben
Das eindrückliche Humayun-Mausoleum soll als Vorlage für den Taj Mahal gedient haben
Wir geniessen die Zeit in Delhi sehr
Wir geniessen die Zeit in Delhi sehr

Im Lodi Park folgt ein weiteres Stelldichein der Mogul-Monumente, umgeben von einem stimmungsvollen Park. Grüne Papageien ziehen ihre Kreise über den Familien, die hier Federball spielen und die jungen Paare, die heimlich Zärtlichkeiten austauschen, während der Chole Walla (Kichererbsenverkäufer) sein Glück versucht. Die Sonne hinter dem dichten Smognebel erscheint nun fast magisch. In der Lodi Colony folgen wir den grossen farbenfrohen Wandgemälden und erreichen im Khan Market eine Hipster-Enklave mit den teuersten Mieten der Stadt mit schicken Kleiderläden und richtig teuren Restaurants. Während die Inder sich sonst generell konservativ kleiden, so scheinen hier andere Regeln zu gelten und wir sehen zum ersten Mal in Delhi Männer mit Shorts und Frauen mit bauchfreien Tops. Es scheint eine Welt entfernt zu sein von Old Delhi und dabei liegen nur einige Kilometer dazwischen. Es ist spannend für uns diese Unterschiede zu sehen.

Fast schon magisch erscheint der Smoghimmel im Lodi Garten
Fast schon magisch erscheint der Smoghimmel im Lodi Garten
Die grosse Parkanlage ist einer der stimmungsvollsten Orte Delhis
Die grosse Parkanlage ist einer der stimmungsvollsten Orte Delhis
Stufenbrunnen Agrasen Ki Baoli aus dem 14. Jahrhundert
Stufenbrunnen Agrasen Ki Baoli aus dem 14. Jahrhundert

Fazit zu Delhi und bangen bis zur letzten Minute

Delhi ist tatsächlich eine Stadt der Kontraste, so klischeehaft und abgedroschen diese Aussage auch klingen mag. Wir finden es total spannend, in diese unterschiedlichen Facetten eintauchen zu dürfen und in dieser kurzen Woche einen kleinen Eindruck zu erhalten. Wohl an wenigen Orten scheint Indien mehr Indien zu sein, mehr Grossstadt, Gedränge, Gewusel und Überraschung. Die Farben und die Gerüche, selten haben wir eine Stadt so intensiv, überfüllt und bunt erlebt. Doch das muss man zulassen können. Wir geben uns hin, denn wie im Iran gilt auch in Indien, dass man sich am besten einfach mitreissen lässt und sich von Plänen und Erwartungen verabschiedet.

Eine gute Voraussetzung, denn wir müssen fast bis zur letzten Minute bangen wie unsere Reise ab Delhi weitergeht. Die Hinterradnabe von meinem Rad, welche auf dem abgelegenen Pamir Highway kaputt ging, liessen wir uns nach dem Desaster in Duschanbe nochmals nach Delhi senden. Seit einem Monat ist die Nabe auch in der Stadt, doch liegt aktuell noch beim Zoll und hängt in der indischen endlos-Bürokratieschlaufe fest (an dieser Stelle ein kurzer ironischer Dank an die Briten für ihr Bürokratie-Vermächtnis). Jeden Tag scheitert die Auslieferung an einem anderen Problem: Die Hoteladresse wurde nicht richtig vermittelt, die Telefonnummer stimmt nicht. Es ist egal, jeden Tag entsteht ein neues Hindernis, weshalb die Nabe die letzten 20 km bis zu unserer Unterkunft nicht überwinden kann. Es ist nur noch zum Verzweifeln und am liebsten würden wir einfach am Zoll vorbeigehen und die Nabe einfach mitnehmen, doch strenge Vorschriften und die mühsame Bürokratie stehen diesem Plan im Weg.

Diese Nabe hat uns viel Zeit und Nerven gekostet
Diese Nabe hat uns viel Zeit und Nerven gekostet

In diesen ersten Tagen erleben wir auch, dass Indien oftmals ein «Nein-Land» zu sein scheint. So wird oftmals zuerst einmal «Nein» gesagt, statt etwas abgeklärt. Hauptsache, man muss sich nicht darum kümmern. Schnell müssen wir uns daran gewöhnen, unsere uns eigene Zurückhaltung abzulegen und immer wieder nachzufragen und zu insistieren bis aus einem «Nein» ein «Vielleicht» wird. Eine wahrliche Geduldsprobe für uns oder möchte uns Indien einfach nur bereits in der ersten Woche mehr Geduld lehren? Wir werden sehen.

Einen Tag vor unserer Weiterreise passiert das Unmögliche; die Nabe wird ins Hotel geliefert, das Hinterrad von einem Mechaniker abgeholt und repariert und am nächsten Tag zurückgebracht. Was ganze zwei Monate gedauert hat, wurde plötzlich in etwas mehr als einem Tag gelöst. Auch das ist Indien. Am Abend vor der geplanten Weiterreise haben wir endlich die Gewissheit, dass wir mit unseren Rädern weiterreisen können. Sehr gut, denn die Zugfahrt an die nächste Destination ist schon lange gebucht. Also schwingen wir uns nach zwei Monaten Zwangspause endlich mal wieder aufs Rad und fahren gleich mal quer durch Delhi zum Bahnhof und verladen nach langen Diskussionen unsere Räder im Zug. Einsteigen und Ausatmen. Indien, wir kommen!

Als nächstes erkunden wir den farbenfrohen Wüstenstaat Rajasthan mit seinen faszinierenden Palästen, Forts.

Lektion Nr. 1 in Indien: Ruhig bleiben und Chai trinken ist immer eine gute Idee
Lektion Nr. 1 in Indien: Ruhig bleiben und Chai trinken ist immer eine gute Idee

6 Antworten zu “Delhi: Auf der Suche nach dem Kulturschock in Indien (56)”

  1. Einmal mehr bin ich fasziniert von Euren detaillierten Darstellungen. Dass ihr am Abend jeweils noch wisst, wie die zahlreichen Gerichte heissen… Und ein wenig schmunzeln musste ich über das Foto von Lisa mit weisser Bluse – in dieser doch mehrheitlichen schmutzigen Stadt. Aber Du warst schon immer besser angezogen als viele Traveller…
    Herzliche Grüsse und hoffentlich bis bald in F
    Erwin

    • Vielen Dank für die netten Worte Erwin! Ja in Indien haben wir wohl etwas zu viel neue Kleidung gekauft:) Hoffentlich bis Bald in der Schweiz und herzliche Grüsse von uns, Lisa & Dario.

  2. Diese Art des Reisens gefällt mir sehr. Die Bilder und Berichte sind sehr authentisch und vermitteln ein interessantes Bild von Indien. Es gibt auch andere Weltreisende die täglich 80 km mit dem Fahrrad durch Indien düsen.Da kann man in die Lebensweise der Inder nicht so tief eintauchen. Macht weiter so und viel Glück beim Radeln.
    Herzliche Grüße aus Sachsen von Volkmar

    • Lieber Volkmar,

      Vielen Dank für deine Worte. Wir hatten auch schon Etappen wo wir täglich viele Kilometer zurückgelegt haben und manchmal geht es auch nicht anders, aber da unsere Reise open-end ist und wir keinen Zeitdruck haben, schätzen wir es sehr, langsamer unterwegs zu sein und mehr Platz zu lassen für Begegnungen und ein vertieftes Eintauchen in die Kultur. Liebe Grüsse nach Sachsen.

  3. Liebe Lisa, Lieber Dario, es war schön euch kurz zu treffen. Ihr seid jetzt sicher retour aus dem Tsum. Bin gestern nach Hause gekommen. Zu gerne wäre ich noch geblieben aber ich komme wieder. Euch Beiden noch eine schöne Zeit viele spannende Erlebnisse Hanna. Über info@alpinschulesuedtirol. Vom bin auch erreichbar. Vielleicht seid ihr hier bei uns in der Gegend auch wieder einmal unterwegs würde mich freuen 🙏🙏🙏❤️❤️❤️

    • Vielen Dank liebe Hanna, so schön von dir zu hören! Wir sind retour aus dem Tsum Valley mit vielen bleibenden Erinnerungen. Wir haben auch noch den Ausflug zu den Nonnen bei der Gompa Longdang gemacht, ein sehr eindrückliches Erlebnis. Diese Wanderung war für uns etwas ganz besonderes und wir sind dankbar für die wertvollen Einblicke. Nun sind wir bereits in einer ganz anderen Welt in Südindien. Herzliche Grüsse ins Südtirol!

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