03.09.2023

Megacity Mumbai: Zwischen Slums und Wolkenkratzern (58)

Indien Teil 3: Extreme Gegensätze in der Metropole am Meer

Der Moloch Mumbai ist bunt und bombastisch wie die Bollywood-Filme. Ist Hitzeflimmern, Platzmangel und eine Stadt für Ruhelose und Träumer. Mumbai vibriert Tag und Nacht und die Millionenmetropole scheint Tausende Gesichter zu haben und Widersprüche an jeder Ecke. Es ist Indien in einem Kaleidoskop – die vielen Facetten des Landes spiegeln sich in dieser lebendigen Stadt mit ihrem typischen Mumbai Spirit wider.

Fotoshootings am Chowpatty Beach
Fotoshootings am Chowpatty Beach

Wenn das Stadtgebiet als Insel gelten würde, dann wäre Mumbai die bevölkerungsreichste Insel der Welt. Weit über 22 Millionen leben in der Hauptstadt Maharashtras, die durch zahlreiche Brücken mit dem Festland verbunden ist. Mehr als die Hälfte der Einwohner lebt in Slums, die nicht registriert sind. Daneben stehen Wolkenkratzer aus Glas und Beton für die Reichen und die Bollywoodsternchen zu Mietpreisen, die denen in europäischen Metropolen in nichts nachstehen. Die Stadt ist ein Magnet für Tagelöhner und Glücksritter, die aus allen Teilen des Landes in die Stadt strömen. Jeden Tag ziehen Hunderte Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierher. Die Stadt ein leuchtender Stern aus einem Bollywood-Film und Glücksversprechen für viele.

Dichtes Gedränge herrscht vor dem Gateway of India besonders am Nachmittag / Abend
Dichtes Gedränge herrscht vor dem Gateway of India besonders am Nachmittag / Abend

Das ehemalige Bombay ist heute eine kosmopolitische Metropole und das Finanz- und Wirtschaftszentrum Indiens. Über den grössten Hafen Indiens wird die Hälfte des Aussenhandels verschifft und die «Traumfabrik Bollywood» ist eine der grössten Filmindustrien der Welt. In der Stadt leben mehr Millionäre als in allen anderen indischen Städten zusammen. Die Stadt kennt die Extreme. Für die einen gehören Besuche in der Schönheitsklinik und Detox-Smoothies zum Alltag, während andere auf Mülldeponien nach Verwertbarem suchen und jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen. Die Mumbaiker lieben ihre Stadt trotz all der Gegensätze und möchten an keinem anderen Ort der Welt leben und die Besucher tun es ihnen gleich oder suchen möglichst schnell das Weite, weg vom Gedränge, Gestank und Gehupe.

Wir haben nur vier Tage für die Stadt eingeplant, natürlich viel zu wenig und doch reichte es für ein paar Streifzüge und Geschichten aus dieser Stadt und euch nehmen wir nun einen vollen Tag lang mit auf Erkundungstour.

Viel mehr Mumbai in einem Bild geht nicht: Gateway of India und Thai Mahal Palace Hotel
Viel mehr Mumbai in einem Bild geht nicht: Gateway of India und Thai Mahal Palace Hotel
Die kolonialen Gebäude Mumbais gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe
Die kolonialen Gebäude Mumbais gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe

Auf den Spuren von Shantaram

Es ist früh am Morgen und wir schlendern los von unserer Unterkunft im Touristenviertel Colaba. Hier wird jeder Erstbesucher angespült, hier befinden sich die Touristengeschäfte, das Gateway of India, das altehrwürdige Taj Mahal Palace Hotel und das berühmte Café Leopold, bekannt aus dem Roman Shantaram. Wohl wenig Indienreisende haben sich nicht von Lin und seinen Abenteuern in Mumbai faszinieren lassen. Ein Buch, das der Stadt ein unvergleichliches Denkmal setzt. Auch wir lesen das Buch ein weiteres Mal, während wir in Indien sind. Und natürlich möchten wir auch einmal im Café Leopold mit seinen verspiegelten Wänden sitzen, doch es ist jedes Mal proppenvoll mit Touristen aus Indien und der ganzen Welt und zudem ziemlich überteuert. Unser Fazit: es gibt viel bessere Orte.

Zwischen den Touristenrestaurants Colabas vegetieren Junkies dahin in den dunkleren Seitengassen, bärtige alte Männer schlafen auf dünnen Kartons vor den Hauseingängen, die Taxifahrer warten vor ihren schwarz-gelben Ambassadors auf Kundschaft und die Touristenschlepper versuchen ihre Masche bei den soeben Angekommenen, die man an ihren Jeans und der noch zaghaften Gangart schnell erkennt. Auch ich war mal so, als ich vor 15 Jahren meine ersten zögerlichen Schritte durch Indien machte und in Colaba in einem Massenschlag übernachtete. Erinnerungen kommen hoch an diese längst vergangene Zeit, als ich mit Dario nun in den frühen Morgenstunden durch die noch leeren Strassen Colabas schlendere.

Der frühe Vogel fängt den Fisch

Nur wenige Menschen sind um diese Uhrzeit unterwegs, es sind vorwiegend Jogger, die sich nicht beim Coffee Take Away treffen, sondern beim Kokosnussverkäufer um die Ecke. Wir machen gleich mit und beginnen den Tag mit einer frischen Kokosnuss. Der Schweiss läuft bereits runter um sieben Uhr morgens, es ist schwülheiss in Mumbai. Solche Temperaturen haben wir die letzten Wochen in Delhi und Rajasthan nicht erlebt und wir müssen uns zuerst daran gewöhnen. Willkommen im Süden Indiens. Wir gehen weiter und kommen an einer Kuh vorbei, einem seltenen Anblick in Mumbai, denn in den grösseren Städten Indiens finden sich kaum Kühe auf der Strasse. Diese hier steht neben ihrem Besitzer und einem riesigen Bündel Gras und wartet darauf, dass Passanten ihr Futter kaufen. Kuh füttern fürs Karma ist in Indien business as usual.

Start in den Tag mit einer Kokosnuss
Start in den Tag mit einer Kokosnuss

Unser Ziel ist der Fischmarkt am Sassoon Dock weiter südlich von Colaba. Besonders in der Frühe herrscht hier emsiges Treiben. Die Männer kehren mit den ratternden Fischerbooten zurück und filetieren riesige Fische mit ihren Säbeln, während sich rundherum Katzen und Hunde tummeln und die Vögel einen ohrenbetäubenden Lärm machen. Die Frauen der Koli, der alten Fischergemeinde, sitzen mit dampfendem Chai schwatzend am Boden, nehmen die Fische aus und verkaufen den Fang des Tages. Familien kommen her und decken sich für die nächste Woche mit Fisch ein und Hotelmitarbeiter ordern kistenweise Meerestiere für die umliegenden Hotels.

Wieder zurück in Colaba setzen wir uns in ein elegantes Café, lesen etwas Zeitung und beginnen den Tag mal kurz ganz europäisch, bevor unser Streifzug durch die Stadt der Extreme weitergeht. Die Restaurant- und Beizendichte ist in Colaba ernorm gross und man könnte hier richtig viel Geld ausgeben wenn man möchte. Für uns geht es frisch gestärkt weiter.

Sonntagmittags in Mumbai

Wir spazieren vorbei an viktorianischen Kolonialgebäuden, die uns gleich nach England versetzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche öffentliche Gebäude wie Banken oder Universitäten im viktorianisch-gotischen Stil errichtet und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Art-Déco-Gebäude hinzu. Dieser einzigartige Indo-Gotik-Déco-Stil verbreitete sich von hier über den ganzen indischen Subkontinent und gehört heute zum UNESCO-Welterbe. Langsam wird es drückend heiss und wir benötigen eine Abkühlung, also schnell ins nächste Museum. Wir tauchen ein in die Geschichte im prachtvollen Princes of Wales Museum (oder die Zungenbrechervariante davon: Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya).

Überall in Mumbai findet man sehenswerte Gebäude aus der britischen Kolonialzeit
Überall in Mumbai findet man sehenswerte Gebäude aus der britischen Kolonialzeit
Indische Skulpturen sind oft kugelrund auf die ein oder andere Weise
Indische Skulpturen sind oft kugelrund auf die ein oder andere Weise
Wir haben schon länger keine Kirchen mehr gesehen auf unserer Reise
Wir haben schon länger keine Kirchen mehr gesehen auf unserer Reise

Wir schlendern zum riesigen Maidan, einer schattenlosen Grasfläche inmitten der britischen Kolonialpracht. Hier ist am Sonntag überraschend viel los und wir müssen gucken, dass wir nicht von einem Ball getroffen werden. Denn gefühlt jeder Cricket-Verein und Hobbyspieler scheint heute hier zu sein. Da ist der Opa mit seinem Enkel beim Ball werfen, dort sind die professionelleren Spieler mit ihren Tenues und dazwischen kichernde Teenagermädchen, die den starken Jungs zugucken. Es ist ein herrliches Spektakel. Doch wir müssen zugeben, wir kennen die Regeln nicht und auch keine der bekannten Cricketspieler, obwohl das der Eisbrecher fürs Gespräch schlechthin wäre hier in dieser Weltgegend.

Schnell den Kopf einziehen und weiter zum Gateway of India, dem bekanntesten Monument der Stadt. Der riesige Triumphbogen am Meer ist das Tor zur Stadt. Die Besucher werden durch Eingänge durchgeschleust und es herrscht dichtes Gedränge. Früher war das Monument freier zugänglich. Das Gateway of India wurde von den Briten 1911 errichtet zum allerersten Besuch von König George V. Ironischerweise verliessen aber auch von hier 1947 die letzten britischen Soldaten den Indischen Subkontinent. Gleich hinter dem Gateway of India fällt der Blick auf das berühmte Luxushotel Taj Mahal Palace, das nach den Terroranschlägen von 2008 komplett restauriert wurde. Es war das erste Hotel, das in Indien Frauen als Personal beschäftigte und auch wenn man nicht dort übernachtet, kann man einen Drink an der Bar geniessen oder fürs opulente Frühstück vorbeischauen.

Am Sonntag strömen alle Cricketfans auf den Maidan
Am Sonntag strömen alle Cricketfans auf den Maidan
Gateway of India
Gateway of India

Schöne Steinmetzarbeiten auf Elephanta Island

Wir legen zusammen mit zahlreichen anderen Ausflüglern mit einem Boot vor dem Gateway of India ab und fahren in einer Stunde rüber zum UNESCO-Weltkulturerbe Elephanta Island. Auf der Insel wurden in den Jahren 450 bis 750 n. Chr. beeindruckende Tempelreliefs in den Fels geschlagen, welche hauptsächlich dem Gott Shiva geweiht sind. Eindrücklich zu sehen, welche Arbeit die Steinmetze hier geleistet haben. Beim Besuch der Höhlen muss man nur aufpassen, dass einem die Affenbande keine Snacks aus den Taschen klaut, denn süss sind Affen in Indien generell nicht, sondern eher ziemlich vorwitzig und frech.

Basarleben und die grösste Open-Air Wäscherei

Nach unserem Bootsausflug fahren wir mit dem überfüllten Vorortszug etwas weiter nördlich und streifen durch Wohn- und Basarviertel. Auf dem Crawford Market werden zahlreiche Dinge verkauft, von der Pyjamaabteilung bis zu Haustieren. Die Einheimischen decken sich mit frischen Früchten und Gemüse ein und die Touristen mit exotischen Gewürzen. Immer wieder werden wir gefragt, ob wir nicht Interesse an Safran und Paschmina (Kaschmir)-Schals hätten. Offensichtlich die beliebtesten Produkte bei ausländischen Touristen in den Augen indischer Verkäufer. Wir müssen jedes Mal schmunzeln, wenn sich mal wieder jemand mit leuchtenden Augen uns in den Weg stellt und fragt: «You’re looking for saffron, yes?»

Nein, wir suchen nichts. Wir möchten nur gucken und das ganze Gewusel und Gedränge in uns aufnehmen und uns von dieser Stadt für ein paar Stunden in den Bann ziehen lassen, bevor all die Intensität zu viel wird und wir den sofortigen Rückzug antreten müssen.

Lebhaftes Treiben rund um den Crawford Market
Lebhaftes Treiben rund um den Crawford Market

Wir spazieren weiter und beobachten das Alltagsleben, das in Indien oft mehrheitlich draussen stattfindet. Es werden draussen die Haare geschnitten, Zähne geputzt und natürlich auch die Kleider gewaschen. Der Dhobi Ghat ist der grösste öffentliche Freiluft-Waschsalon der Welt. Die riesige Wäscherei und die vielen aufgehängten weissen Bettlaken bieten einen starken Kontrast zu den luxuriösen Wohnhäusern im Hintergrund. Privatpersonen, Hotels, Restaurants und Krankenhäuser lassen hier ihre Wäsche von den «Dhobis» waschen.

Mahalakshmi Dhobi Ghat ist die grösste Open-Air Wäscherei der Welt
Mahalakshmi Dhobi Ghat ist die grösste Open-Air Wäscherei der Welt
Mit Preisen, die weit unter denen privater Wäschereidienste liegen, sind die Dhobis von Mahalaxmi immer noch die erste Wahl für die meisten kleineren Krankenhäuser und Hotels der Stadt.
Mit Preisen, die weit unter denen privater Wäschereidienste liegen, sind die Dhobis von Mahalaxmi immer noch die erste Wahl für die meisten kleineren Krankenhäuser und Hotels der Stadt.

Mehr als fünftausend Männer waschen mit blossen Händen Bettlaken, Kopfkissen und Hemden. Es ist eine eigene Kaste, die hier arbeitet und die Wäscherei eine Welt für sich. Die Männer sammeln die Wäsche ein und weichen sie danach in dem gemieteten Becken ein. Danach werden die Kleider schonungslos geschrubbt und geklopft, danach nochmals gespült; zum Trocknen aufgehängt und mit einem Kohle-Bügeleisen in Form gebracht. Das Wasser in den Betonbecken ist verfärbt und es stinkt nach ätzenden Chemikalien, welche zu Verätzungen und Verletzungen führen können. Dhobis, die es sich leisten können, eines der über 800 Becken auf dem Areal zu mieten, werden von anderen Wäschern angestellt. Sie verdienen für die körperlich harte Arbeit an die zwei bis drei Franken pro Tag, je nachdem wie flink sie arbeiten. Wer es nach oben schafft, kann selber solche Becken verleihen und muss nicht mehr knietief in der Seife stehen.

Wer mehrere solcher Betonbecken vermieten kann, hat es geschafft
Wer mehrere solcher Betonbecken vermieten kann, hat es geschafft

Jeden Tag werden Tonnen von Wäsche umgeschlagen und nichts geht verloren. Das System ist unglaublich effizient und gehört wie die Lunchbox-Lieferanten, die Dabbawallas, einfach zu Mumbai dazu. Bei einem Rundgang mit einem Angestellten werden wir durch die verschiedenen Abteilungen der Wäscherei geführt und sehen auch, unter welchen Bedingungen die Angestellten mit ihren Familien hausen. Sie kommen aus anderen Bundesstaaten hierher und leben in schmalen Wellblechhütten in der Wäscherei oder im angrenzenden Slum. Teilweise in kleinen, fensterlosen Räumen und teilweise einfach am Arbeitsplatz ohne Rückzugsmöglichkeit. Auch eine Schule befindet sich hier für die Kinder der Wäscher.

Das ganze Leben findet im Mikrokosmos der Freiluftwäscherei statt. Das indische Kastenwesen ist in den letzten Jahren zwar durchlässiger geworden, Wäschern und anderen niedrigen Kasten bleibt der berufliche und soziale Aufstieg trotzdem oftmals verwehrt. Wir möchten noch mehr Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten Mumbais erhalten und besuchen Dharavi.

Dharavi: Das Millionen-Dollar-Slum

Lange haben wir uns überlegt, ob wir an einer Tour durch einen Slum teilnehmen möchten oder nicht. Wir möchten keine Slums besuchen, um irgendwelche Klischees bestätigt zu sehen und dann aufgeregt zu schreiben, wie schlimm die Bedingungen sind und wie überrascht wir davon sind. Das sind wir nicht. Dass wir uns doch dafür entscheiden liegt daran, dass Dharavi anders ist als andere Slums und sich wahrscheinlich etwas Vergleichbares nirgends auf der Welt finden lässt.

Die Bewohner:innen Dharavis haben Unvorstellbares geschaffen: Zwischen den einfachen Hütten befinden sich an die 15'000 Minifabriken, die jährlich an die 700 Millionen Dollar erwirtschaften. Das interessiert uns und auch wie das Zusammenleben auf solch komprimiertem Arbeits- und Lebensraum funktioniert. Nach langer Diskussion, haben wir uns schliesslich für eine 3-stündige Tour durch Dharavi entschieden mit Reality Tours & Travel. Wir haben diese Organisation gewählt, da 80% der Einnahmen der NGO zu Gute kommt, welche kostenlose Englisch- und Computerkurse mitten im Slum anbietet. Zudem werden während den Touren keine Fotos geduldet, was wir sehr sympathisch finden. Die Bilder aus diesem Teil des Berichtes stammen daher auch von Reality Tours & Travel und nicht von uns.

Cricket und Ziegen im grössten Slums Asiens.
Cricket und Ziegen im grössten Slums Asiens.

Wir besuchen also das Slum mit der wirtschaftlichen Strahlkraft und wer nur Elend und Lethargie erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. Jeder scheint beschäftigt zu sein im produktivsten Slum der Stadt. In Dharavi wird getöpfert, Leder gegerbt, Lebensmittel hergestellt und vor allem auch Plastik recycelt für das Einschmelzen zu Mikroteilen, welche dann wieder für Waschmaschinen o.ä. verwendet werden können. Müllsammler durchstreifen täglich die Müllberge und Strassenränder der Stadt mit grossen Sammelsäcken und bringen die aufgelesene Ware ins Slum. Dann wird sortiert, nach Farben geordnet, geschmolzen, geschreddert und das Endprodukt an plastikverarbeitende Betriebe verkauft bis es schliesslich als Spielzeug, Fernsehgehäuse etc. in den Kaufhäusern weltweit landet. Ein ewiger Kreislauf. Wie viele Mikrobetriebe es hier tatsächlich gibt, weiss wohl niemand.

Meistens sind es alleinstehende Männer die hier arbeiten und leben und ihre Familien in den Dörfern nur einmal jährlich besuchen können. Die Arbeitsbedingungen sind extrem mit toxischen Dämpfen in den Werkstätten gemischt mit der tropischen Hitze. Schutzbekleidung und Gewerkschaften gibt es keine. Viele der Männer hier aus den ärmsten Ecken Indiens können sich keine Wohnung im Slum leisten und wohnen und schlafen auf dem nackten Boden.

Leben und arbeiten auf engstem Raum

Dharavi ist der drittgrösste Slum der Erde und es leben über ein Millionen Menschen auf knapp 2 Quadratkilometern zusammen. Als Vergleich: es leben ein Millionen Menschen auf einer Fläche, die kleiner ist als der Central Park in New York und in etwa so gross wie Monaco. Die meisten Einwohner sind Hindus, doch es leben auch einige Moslems und wenige Christen in Dharavi. Oftmals wohnen Nachbarn aus denselben Dörfern nebeneinander und es wird innerhalb der gleichen Gemeinschaft / Kaste geheiratet.

Dharavi ist nur eines von vielen Slums in Mumbai, erhielt jedoch internationale Berühmtheit durch den Film Slumdog Millionaire, der hier gedreht wurde. Und auch der Bestsellerroman Shantaram hat die Slums in Mumbai bekannter gemacht, auch wenn die Handlung nicht hier spielte. Der Hauptdarsteller der gleichnamigen Serie, Charlie Hunnam, hat sogar dieselbe Tour wie wir durch Dharavi gemacht als Vorbereitung für die Dreharbeiten. Die Bewohner von Dharavi mögen den Film Slumdog Millionaire übrigens nicht, weil er nur die eine Seite von Dharavi zeigte und die westliche Vorstellung bestätigt, dass Slums nichts weiter als hoffnungslose Orte sind voller Armut und ohne Perspektiven. So sehen sich die Einwohner hier nicht. Deshalb konzentriert sich Reality Tours & Travel darauf, eine andere, positivere Seite von Dharavi zu zeigen.

Eigentlich zählt Dharavi offiziell gar nicht als Slum, denn alle Häuser, welche bis 1995 hier gebaut wurden, gelten als legal. Nur die illegalen Häuser werden abgerissen. Seit der britischen Kolonialzeit siedelten immer mehr Dorfbewohner aus ganz Indien im heutigen Dharavi-Gebiet an und daher stehen gewisse Häuser seit 1860 hier. Und Dharavi ist dank seiner zentralen Lage sehr beliebt und somit gleicht ein Umzug hierher einem sozialen Aufstieg. Es gibt sogar richtig lange Wartelisten, um hier wohnen zu dürfen. Die Mieten liegen bei 6000 – 20'000 Indischen Rupien (CHF 75.- CHF 250.-) monatlich für kleine Wohnungen. Das Einkommen variiert natürlich, aber für einfache Jobs, welche keine Fachkraft benötigen, sind es an die CHF 170.- pro Monat, nicht gerade viel in einer so teuren Stadt wie Mumbai.

Dharavi ist eine Stadt in der Stadt mit einem Commercial District, windschiefen Wellblechhütten, Häusern mit Terrassen, zahlreichen Geschäften, Krankenhäusern, privaten und öffentlichen Schulen und gefühlt tausenden kleiner Werkstätten. Oftmals fühlt man sich gar nicht mehr wie in einem Slum, sondern mehr wie in einem typisch indischen Dorf mit einem Dorfplatz mit Banyanbaum, Hindu-Schrein, einem Ziehbrunnen und herumlaufenden Ziegenherden. Gerade läuft eine dicke Henne zwischen uns durch, Katzen huschen in die Eingänge und nur Kühe fehlen in dem Bild vor uns, denn die hätten auch keinen Platz im Slum. Der Duft von frischem Essen weht zu uns herüber und wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf die knusprigen Pappadams (Fladenbrote aus Linsenmehl) treten, die hier überall zu Trocknen in der Sonne ausgelegt sind. Die Kinder mit ihren adretten Schuluniformen laufen neben uns her und möchten mit uns ihr Englisch üben. Es sieht irgendwie aus wie überall in Indien, nur etwas komprimierter.

Kurz darauf werden die Gassen dann aber so eng und schmal und dunkel, dass man fast nichts mehr sieht. Hier kommt kein Lichtstrahl mehr durch und die Luft steht. Überall hängen Stromkabeln und man kann sich nur vorsichtig bewegen und es hat jeweils nur eine Person Platz. In den Hauseingängen steht der «Gegenverkehr». Steile Treppen führen links und rechts von uns in die Wohnungen hoch, kaum vorstellbar so zu leben. Unter den Betonplatten unter unseren Füssen läuft das Abwasser hindurch. Ein beissender Geruch hängt in der Luft. Es riecht nach viel zu vielen Menschen, viel zu wenig Luft und fauligem Wasser. Kurz darauf passieren wir einen Fluss, oder eher eine stehende Kloake, die zur Hälfte mit Müll bedeckt ist. Auch heute noch wird Abfall einfach da reingeschmissen. Ab und an kommen dann Bewohner mit selbst gebastelten Styropor-Booten vorbei und stöbern nach verwertbarem Hartplastik fürs Recycling. Der Monsun wäscht das Ganze dann jährlich direkt ins Meer. Allgemein möchte man sich hier die Monsunzeit nur schwer vorstellen, wenn alle Strassen geflutet werden und sich Krankheiten sicherlich sehr schnell ausbreiten.

In gewissen Ecken ist es auch tagsüber stockdunkel
In gewissen Ecken ist es auch tagsüber stockdunkel

Alltag im Slum und Zukunftsperspektiven

Nur 1% der Einwohner Dharavis besitzen eine eigene Toilette, ein absoluter Luxus hier. Viele Haushalte haben zwar eine Art Waschecke eingerichtet, doch müssen sie fürs Geschäft auf die öffentlichen Toiletten gehen, die sie mit Tausenden (!) anderen Bewohnern teilen. Am Morgen bilden sich dadurch immer lange Warteschlangen. Es gibt Stromversorgung und 2 Stunden pro Tag Wasseranschluss. Es gibt öffentliche Schulen, welche kostenlos besucht werden können und Uniformen und Mittagessen zur Verfügung stellen. Nur bedeutet dies auch, dass auf einen Lehrer an die 70 Kinder kommen können. Zum Glück gibt es viele Organisationen welche zusätzlich kostenlosen Unterricht anbieten und wir unterstützen eine davon durch unsere Teilnahme an der Führung. Was uns extrem beindruckt ist die enge Gemeinschaft hier, in der sich Menschen hilfsbereit begegnen. Viele Slumbewohner entscheiden sich in Dharavi zu bleiben, obwohl sie es sich leisten könnten, wegzuziehen.

Das Gemeinschaftsgefühl in Dharavi ist gross. Alle wissen, es geht nur miteinander.
Das Gemeinschaftsgefühl in Dharavi ist gross. Alle wissen, es geht nur miteinander.

Natürlich möchten wir wissen, wie die Zukunftsperspektiven für die Einwohner von Dharavi aussehen. Die zentrale Lage hat zum Interesse zahlreicher Investoren geführt und die Adani Gruppe hat im Dezember 2022 den Slum gekauft und möchte in den nächsten sieben Jahren alles platt machen und neue lukrative Wohnhäuser entstehen lassen. Dharavi hat nun einen CEO.

Die Bewohner der Slums werden umgesiedelt und sollen ca. 37m2 Wohnraum zur Verfügung bekommen. Das verspricht natürlich viel mehr Komfort und auch der Zugang zu fliessend Wasser und sanitären Anlagen. Doch was passiert dann mit all den Kleinstgetrieben, den zahllosen kleinen Manufakturen wie den Töpfern? Diese Jobs würden verloren gehen und wohl auch der ausgeprägte Gemeinschaftssinn. Wir fragen uns, weshalb die Arbeitsbedingungen der Menschen nicht in die Planung der Investoren einbezogen werden können. Um was geht es hier eigentlich? Wir werden sicher weiterverfolgen wie sich diese Geschichte weiterentwickelt und verlassen Dharavi mit einer grossen Demut vor den Menschen hier.

Vielen Dank an Reality Tours & Travel für diese intensiven Einblicke
Vielen Dank an Reality Tours & Travel für diese intensiven Einblicke
Mittagessen bei einer Familie in Dharavi
Mittagessen bei einer Familie in Dharavi

Abendstimmung am Marine Drive & Chowpatty Beach

Nach so vielen intensiven Eindrücken, benötigen wir eine Abwechslung und machen uns auf zum Marine Drive, der beliebten Meerespromenade mit Art-Déco-Gebäuden und Palmen. Sehen und Gesehen werden und das quer durch alle sozialen Schichten. Hier sitzen sie also, die Mumbaiker und schauen auf das trübe Meer hinaus, im Hintergrund die Skyline und dort der Horizont. Am Chowpatty Beach ist es abends richtig voll und zahlreiche Einheimische kommen her, essen ein traditionelles Kulfi-Eis, knabbern die beliebten Bhel Puri (Puffreis, Chillipaste, Zwiebel und Koriander) und halten die Zehen ins Meer und sitzen im Sand. Das dunkle Wasser lädt nicht gerade zum Baden ein und doch lässt die Stimmung hier beim Sonnenuntergang definitiv Ferienstimmung aufkommen. Überall hören wir Freude und Gelächter. Ein schöner Abschluss von diesem Tag.

Die im Art Déco-Stil errichteten Wohngebäude an der Uferpromenade Marine Drive vermischen indische und Art Déco-Stilelemente miteinander.
Die im Art Déco-Stil errichteten Wohngebäude an der Uferpromenade Marine Drive vermischen indische und Art Déco-Stilelemente miteinander.
Der beliebte Marine Drive Boulevard ist 3.6 km lang
Der beliebte Marine Drive Boulevard ist 3.6 km lang
Sonnenuntergang am Chowpatty Beach
Sonnenuntergang am Chowpatty Beach

Zwischen Kakerlaken und Körpern im überfüllten Zug nach Goa

Wir haben eine Idee mit der wir nicht alleine sind: Wir möchten über Weihnachten / Neujahr an den Strand nach Goa. Wir haben unser Zugticket drei Monate vorher online gebucht und nur die Warteliste erhalten und erst heute wurden unsere Sitznummern bestätigt. Spontan Zug fahren in Indien geht leider nur noch selten, das hat sich definitiv geändert mit den ganzen Onlineportalen. Früher ging man einfach zum Bahnhof und kaufte sich ein Ticket für den Tag der Weiterreise. Good old times. Zusammen mit Melli & Dani reisen wir nach Süden an den Strand, doch zuerst wird es nochmals richtig ungemütlich. Wir fahren mit unseren Rädern an den wunderschönen viktorianischen Hauptbahnhof CST, an dem täglich drei Millionen Fahrgäste in die Stadt geschleust werden. Alle paar Minuten fährt hier ein vollgestopfter Vorortszug los und ellenlange Züge fahren ab hier bis in alle Landesteile, da ist man schnell mal mehrere Tage im gleichen Zug unterwegs.

Der ehemalige Victoria Terminus (heute CST) wurde 1887 fertiggestellt
Der ehemalige Victoria Terminus (heute CST) wurde 1887 fertiggestellt
Der Bahnhof ist eine Mischung aus viktorianischem, hinduistischem und islamischem Stil, die zu einem imposanten, an Dalí erinnernden Bauwerk mit Kuppeln, Türmen, Türmchen und Glasfenstern zusammengefügt wurde.
Der Bahnhof ist eine Mischung aus viktorianischem, hinduistischem und islamischem Stil, die zu einem imposanten, an Dalí erinnernden Bauwerk mit Kuppeln, Türmen, Türmchen und Glasfenstern zusammengefügt wurde.
Wer mit Indiens Zügen fährt, darf keine Berührungsängste haben
Wer mit Indiens Zügen fährt, darf keine Berührungsängste haben

Tipps für Zugreisen in Indien:

Zug fahren in Indien ist ein absolutes Highlight und gehört zu einer Reise durch das Land einfach dazu. Das Erlebnis ist einmalig und kann vom sehr überfüllten Abteil mit vielen Begegnungen bis zur gemütlichen Fahrt im eigenen Abteil mit sauberem Bettlaken etc. reichen.

1.) Vorausbuchen

Je nach Destination, sind Zugtickets 3 Monate im Voraus buchbar. Sofern Datum und Strecke klar sind, empfehlen wir euch dringend, vorauszubuchen, um Überraschungen zu vermeiden. Gewisse Strecken und gewisse Daten sind sehr, sehr beliebt. Alternativ kann man auch 24 Stunden vor Abreise versuchen online ein Last-Minute-Ticket zu ergattern, nur kennen diese Option auch alle Einheimischen.

2.) Reservierung der Tickets

Die Buchung erfolgt nach mühseliger Registrierung über die App Ixigo oder auch direkt über die offizielle Seite: IRCTC. Eine Registrierung macht wirklich nur Sinn, wenn man lange in Indien unterwegs ist, ansonsten empfehlen wir die Zugreservation über einen Drittanbieter wie ein Reisebüro oder die Buchungsplattform 12goAsia. Dort zahlt man zwar saftige Gebühren, doch spart sich auch viele Nerven.

3.) Welche Klasse buchen?

Es gibt 8 verschiedene Zugklassen in indischen Zügen, da muss man sich zuerst richtig einlesen, um die ganzen Codes zu verstehen. Unser Tipp: Für Nachtfahrten 2AC oder 3AC (klimatisierte Abteile mit zwei oder drei Betten) buchen und für Tagesfahrten AC Chair (klimatisierte Sitzklasse) oder Sleepers Class (nicht klimatisiert, dafür offene Fenster und Türen). Eine hilfreiche Übersicht findet sich hier auf der folgenden Seite für Zugfans: https://www.seat61.com/India.htm.

4.) Mitnehmen

Flip Flops, Socken, einen Seidenschlafsack, eine Wasserflasche, Ohropax und Toilettenpapier gehören dringend ins Handgepäck. Snacks benötigt man nicht, es gibt so viele Verkäufer an den Bahnhöfen und Möglichkeiten auch vor der Abfahrt etwas einzukaufen an den grösseren Bahnhöfen. Kleingeld dabei haben lohnt sich dafür umso mehr, wenn man unterwegs spontan einen Chai trinken möchte.

Wir machen uns auf zur Gepäckabteilung und überzeugen die Angestellten, dass wir die Räder selber einladen und das Gepäck an den Rädern lassen möchten. Wie immer folgt eine mühsame Diskussion, bis endlich dann doch alles klappt. Die Räder in Indiens Zügen zu transportieren erfordert Nerven aus Stahl, denn nur allzu gerne spielen sich die Beamten hier auf und sagen zuerst einfach Mal Nein, bevor dann alles doch möglich ist. Tja, Indien halt. Endlich ist es so weit und nach mehreren Stunden Diskussion und Warterei am Bahnhof, dürfen wir die Räder einladen und uns unsere Plätze in der nicht klimatisierten Sleepers Class suchen. Anfangs läuft noch alles gut und wir haben etwas Platz für uns, doch mit jedem Halt steigen neue Gäste zu und der Zug ist völlig überbucht.

Nach langen Verhandlungen dürfen wir die Räder samt Gepäck ins Gepäckabteil laden
Nach langen Verhandlungen dürfen wir die Räder samt Gepäck ins Gepäckabteil laden

Die Menschen liegen zwischen und sogar unter den Sitzen, Kakerlaken krabbeln durch die Haare der Liegenden und der Gang zur Toilette am Wagenende wird zu einem Spiessroutenlauf, an dem man sich zwischen den Körpern irgendwie durchquetschen bzw. durchhangeln muss. Wir beschliessen, von nun an Nachtzüge nur noch in der Luxusklasse zu buchen, denn so ist es definitiv kein Spass, wenn auch ein Erlebnis und eine gute Geschichte.

Am nächsten Morgen Ankunft im Hinterland Goas an einem kleinen Bahnhof. Völlig übernächtigt steigen wir aus und schwingen uns aufs Rad für die letzten 30 km bis ans Meer, wo wir die nächsten sechs Wochen verbringen werden - ein neues Kapitel Indien steht an.

Nun folgt der entspanntere Teil Indiens
Nun folgt der entspanntere Teil Indiens

2 Antworten zu “Megacity Mumbai: Zwischen Slums und Wolkenkratzern (58)”

  1. Liebe Lisa und Dario, wieso hat es in Mumbai und anderen Städten keine Kühe? Ich dachte die sind allgegenwärtig?
    Toller Bericht und herzliche Grüße
    Annelies

    • Liebe Annelies,
      Vielen Dank! Das mit den Kühen ist sehr unterschiedlich und in gewissen Städten gibt es Kühe, aber dann nicht überall und oftmals nicht in den engen Altstadtgassen wegen den Platzverhältnissen. Die Kühe blockieren halt auch den Verkehr (stoisches Rumstehen mitten auf der Strasse), knabbern gerne auch mal den Strassenverkäufern das Essen weg und zudem ist die Stadt ja nicht der optimale Lebensraum für Kühe, daher werden sie teilweise verbannt bzw. es gibt Strafen für den „Kuhhalter“. Andererseits gibt es wieder Viertel wo man viele Kühe sieht, ist ganz unterschiedlich und daher auch schwierig, allgemein zu beantworten:) Lisa & Dario

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