21.10.2021

Pankisi-Tal: Eintauchen in die tschetschenische Kultur (29)

Georgien Teil 4: Unsere Erfahrungen im Pankisi-Tal

«Geh nicht ins Pankisi-Tal, dort ist es zu gefährlich». Mit diesen Worten wurde Nazy Dakishvili 2012 von ihren Bekannten in der Anwaltskanzlei in Tbilisi gewarnt, als sie von ihren Reiseplänen erzählte. Doch Nazy wusste bereits sehr gut, welch negatives Image das Pankisi-Tal im Land hat, schliesslich stammt sie selber aus dem 10 km langen abgeschotteten Tal südlich der Georgisch-Tschetschenischen Grenze. Dieses Tal ist eine muslimische Enklave im sonst überwiegend christlich-orthodoxen Georgien und erschien immer wieder als Rückzugsort islamistischer Kämpfer in den Medien. Wie in anderen Ländern führte auch hier die fehlende Perspektive dazu, dass sich einige Jugendliche entschlossen nach Syrien in den Kampf zu ziehen. Auch wenn dies bereits einige Jahre her ist und man sich sicher im Tal bewegen kann, blieb das schlechte Image am Pankisi-Tal haften, was auch mit den vielen negativen Berichterstattungen zusammenhing. Genau dagegen wollte Nazy etwas tun und setzte sich in den Kopf, in ihrer Heimat ein Gästehaus zu eröffnen und zukünftig auf den Tourismus zu setzen.

Sie reiste durch das ganze Land und besuchte andere touristische Betriebe, bis sie genügend Know-how sammelte, um ihr Haus im Dorf Jokolo in eine Unterkunft zu verwandeln. Die lokale Regierung sowie ihre Nachbarn wollten nicht so recht an dieses Konzept glauben und dachten nicht, dass Touristen in diese Gegend kommen würden. Nazy hielt jedoch an ihrem Projekt fest und eröffnete 2012 das erste Gästehaus im Tal. Und völlig unerwartet kamen bereits im ersten Jahr 65 ausländische Touristen zu Besuch in Nazy’s Guest House und es wurden jedes Jahr mehr. Die internationalen Besucher interessieren sich für die Kultur und die besonderen Traditionen im Tal. Doch langsam finden auch die Georgier vermehrt ins Pankisi-Tal und Nazys Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt, denn sie erhielt 2018 eine Auszeichnung für das beste Ökotourismus-Projekt in Georgien.

Nazy Dakishvili
Nazy Dakishvili
Blick von oben auf die Dörfer vom Pankisi-Tal
Blick von oben auf die Dörfer vom Pankisi-Tal

Und weil wir den Fokus unserer Reiseberichte und Videos nicht nur auf unsere persönliche Reise setzen möchten, sondern vor allem auch auf die besuchten Länder und das Leben der Einheimischen vor Ort legen möchten, nehmen wir euch nun mit in diese unbekannte Gegend Georgiens und beschreiben in diesem Bericht unsere Erfahrungen im Pankisi-Tal. In einem englischen Blog erfuhren wir von diesem Tal und auch von Nazy und wussten gleich, diese visionäre Frau und ihr Gästehaus möchten wir unbedingt besuchen.

Brücke über den Fluss Alazani
Brücke über den Fluss Alazani

Aus Tbilisi kommend erreichen wir nach drei Tagen auf dem Fahrrad das Pankisi-Tal, das aus 12 Dörfern besteht und am Fusse der Berge Kachetiens liegt. Der Fluss Alazani fliesst durch das flache Tal, entlang von dichten Wäldern und grünen Wiesen, auf denen freilaufende Pferde grasen. Die Landschaft ist lieblich, aber nicht so spektakulär wie in anderen Bergregionen Georgiens. Was eine Reise hierhin jedoch so besonders macht, sind die Bewohner. Denn hier leben insgesamt 6'500 Kisten, eine muslimische Minderheit, die ursprünglich aus Tschetschenien stammt. Sie litten unter ständigen kriegerischen Konflikten und wirtschaftlicher Not. Sie verliessen ihre russische Heimat und erhielten die Erlaubnis, im Pankisi-Tal zu siedeln. Seit fünf Generationen leben die sunnitischen Muslime in dem kleinen Tal und sprechen sowohl Tschetschenisch, Georgisch sowie meist auch Russisch. Doch leider gibt es kaum Arbeit und die wirtschaftliche Lage ist prekär. Der Ökotourismus jedoch gibt Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Das Pankisi-Tal bietet sich an für Wanderungen und Reittouren in die Wälder und Berge
Das Pankisi-Tal bietet sich an für Wanderungen und Reittouren in die Wälder und Berge
Die neue Moschee von Duisi
Die neue Moschee von Duisi

Kaum verlassen wir den grösseren georgischen Ort Akhmeta werden wir auf den Strassen wieder begrüsst, Touristen auf dem Rad sind hier wohl eher ein seltener Anblick. Die Frauen tragen lange geblümte Kleider und Kopftücher und aus den Autos winken uns die bärtigen Männer freudig zu. Wir sehen grau verputzte Häuser und im Hintergrund die schroffen Berghänge, staubige Strassen, eine Schafherde auf einem Spielplatz und leerstehende Läden, es ist eine andere Welt hier und es ist offensichtlich, dass hier viele Menschen mit sehr wenig auskommen müssen und es nur wenig Perspektiven für die Jungen gibt.

Nicht viel los auf den Strassen
Nicht viel los auf den Strassen

Im Dorf Jokolo biegen wir von der Hauptstrasse ab und erreichen Nazy’s Guest House, ein schönes weisses zweistöckiges Haus mit einem traditionellen Glasbalkon, Shushabandi genannt, einer Terrasse und einem grossen Garten. Nazy hat hier ein stimmungsvolles und familiäres Gästehaus geschaffen, in dem man sich einfach wohlfühlen muss. Eine Oase der Ruhe und gleichzeitig ein guter Ausgangspunkt für zahlreiche Ausflüge. In der Umgebung gibt es viele lohnenswerte Wanderrouten in die Wälder und zu Wasserfällen und wer sich wagt, kann sogar in fünf Tagen bis nach Tuschetien reiten, sicher ein einmaliges Erlebnis. Künftig soll auch noch eine Open-Air-Küche eröffnet und Kochkurse angeboten werden. Doch Nazy’s Guest House ist viel mehr als eine Unterkunft, es ist mitunter der Start für eine Veränderung im Tal. Denn Nazy blieb nicht alleine und weitere Frauen eröffneten im Tal Unterkünfte, die nun von den lokalen Familien betrieben werden und in denen man die besondere regionale Küche der Kisten probieren und in ihre Kultur eintauchen kann. Unterdessen gibt es sogar eine Organisation, die sich für nachhaltigen Tourismus im Tal einsetzt und verschiedene Projekte unterstützt.

Nazy's Guest House
Nazy's Guest House

Vom Pankisi-Tal in die weite Welt

An unserem ersten Tag im Tal entscheiden wir uns für einen kulturellen Spaziergang durch die Dörfer Jokolo und Duisi mit Lalita und erfahren von ihr mehr über die lokale Küche, die Feste und Traditionen. Sie zeigt uns die alte Moschee von Duisi, das Amphitheater und wir besuchen auch Zizi und ihre Filzwerkstatt. In ihrer kleinen Wohnung stellt sie aus Filz traditionelle Hüte und Mitbringsel her. Als wir sie um ein Foto bitten, getraut sie sich zuerst nicht so recht. Sie sei schon alt und zeigt uns drauf gleich ein Bild von sich, als sie noch jünger war, eine wunderschöne Frau. Wir überzeugen sie in unserem einfachen Georgisch, dass sie immer noch schön sei und dann war sie plötzlich doch einverstanden mit der Aufnahme.

Wir bewundern Zizi's Geduld
Wir bewundern Zizi's Geduld
Traditionelle Hüte aus Filz für Männer
Traditionelle Hüte aus Filz für Männer

Lalita erzählt uns auch von den Clan-Strukturen hier im Tal. Die Familien kennen sich alle untereinander und man hilft einander aus, gleichzeitig ergibt sich dadurch natürlich auch eine Art soziale Kontrolle. Die Familie hat immer noch einen hohen Stellenwert, ebenso der Respekt vor den Ältesten. Die Rollen sind klar aufgeteilt und die Gesellschaft ist stark patriarchisch strukturiert und konservativ. Es ist eine Gesellschaft, in der man als Junge ein viel freieres Leben geniesst. Mädchen dürfen nicht reiten oder Fahrrad fahren und Hochzeiten werden noch oft von den Eltern arrangiert. Doch während einige ihrer Freundinnen bereits selber Kinder haben, hat die 19-jährige Lalita ganz andere Vorstellungen für ihre Zukunft. Sie möchte nach ihrem Studium in Tbilisi nach Paris ziehen und dort Fashion-Design studieren und dann später wieder ins Pankisi-Tal zurückkehren und hier eine Modeschau durchführen und dadurch Arbeitsplätze schaffen.

Wir sind völlig begeistert von dieser jungen Frau mit so viel Tatendrang und freuen uns sehr, als wir kurz darauf auch Lalitas Mutter kennenlernen dürfen, die als Englischlehrerin in der Roddy Scott Foundation arbeitet.

Kultureller Spaziergang mit Lalita
Kultureller Spaziergang mit Lalita

Zukunftsweisend: Roddy Scott Foundation in Duisi

Vor unserem Besuch im Pankisi-Tal informierten wir uns über interessante Entwicklungsprojekte im Tal und stiessen dabei auf eine besondere Schule. Die Roddy Scott Foundation wurde von den Eltern von Roddy Scott gegründet, einem britischen Journalisten, der 2002 im Tschetschenien-Konflikt ums Leben kam und sich sehr für das Pankisi-Tal einsetzte. In den beiden Schulen in den Dörfern Duisi und Jokolo werden seit 2008 kostenlose Englisch- und IT-Kurse für die Jugendlichen angeboten, die nach Schulschluss der regulären Schule hier in den Unterricht kommen. Doch gemäss den Lehrerinnen ist es vielmehr, als nur eine Schule, sondern eine Institution im Dorf, die vieles zur Entwicklung der jungen Generation im Tal beiträgt.

Die Jugendlichen lernen kritisches Denken, schreiben englische Artikel für die Pankisi Times oder produzieren Videos über ihre Umgebung. Viele studieren anschliessend in der Stadt oder gehen ins Ausland. Sie erreichen regelmässig Bestnoten in den landesweiten Englischexamen und können locker mit den Privatschülern aus Tbilisi mithalten. Und auch wir sind erstaunt, ab den guten Englischkenntnissen der Lehrerinnen und der Schülerinnen und Schüler. Wir lernen Linda kennen, die zu den ersten Schülerinnen in der Roddy Scott Foundation gehörte. Sie ist nach ihrem Studium in der Stadt wieder zurückgekehrt und unterrichtet nun ebenfalls als Lehrerin in der Schule in Duisi.

Die engagierten Lehrerinnen der Roddy Scott Foundation
Die engagierten Lehrerinnen der Roddy Scott Foundation
Interessanter Austausch mit den Lehrerinnen im IT-Klassenzimmer
Interessanter Austausch mit den Lehrerinnen im IT-Klassenzimmer

Wir dürfen auch einige der Schülerinnen und Schüler kennenlernen, die nicht nur aus dem Tal selber kommen, sondern auch von den umliegenden georgischen Dörfern. So sitzen die jungen Tschetschenen neben den Georgiern und tauschen gegenseitig ihre Ideen aus und profitieren voneinander. Wir sind erstaunt zu hören, dass zwar viele in der Stadt studieren, aber doch später wieder ins Tal zurückkehren und hier vor Ort etwas verändern möchten. Wir lernen Iman kennen, eine energische junge Frau, die sich für die Klimabewegung Fridays for Future engagiert, etwas gegen den Plastikverbrauch im Tal unternehmen möchte und sich für das Wohl der Tiere einsetzt. Ihre georgische Freundin Nino träumt dagegen davon Journalistin zu werden. Fortschritt beginnt mit Neugierde und Neugierde auf die Welt und Visionen haben diese jungen Menschen definitiv.

Nino und Iman haben grosse Zukunftspläne
Nino und Iman haben grosse Zukunftspläne
Ab Herbst soll es für die Klasse auch Französischunterricht geben
Ab Herbst soll es für die Klasse auch Französischunterricht geben

Wir sind völlig überwältigt wie engagiert die Lehrerinnen hier sind und mit welcher Leidenschaft sie sich für die Jugend im Dorf einsetzen, obwohl sie seit Monaten kein Salär mehr erhalten haben. Die Räumlichkeiten der Schule sind absolut rudimentär und das Gebäude scheint fast auseinander zu fallen. Es fehlt an allem, an Unterrichtsmaterial sowie einer sanitären Anlage, doch vor allem auch an Klassenzimmern, denn die Nachfrage ist riesig. Die Stiftung leistet einen enorm wichtigen Beitrag in der Entwicklung des Tales und wir hoffen sehr, dass es ihnen zukünftig möglich sein wird, ein neues Schulgebäude zu bauen und mehr Unterrichtsplätze für all die lernwilligen Jugendlichen im Tal anzubieten.

Als wir die Schule wieder verlassen sind wir zutiefst berührt von dieser inspirierenden Begegnung und entscheiden uns, die Schule zu unterstützen. Zu unserer Hochzeit wünschten wir uns einen finanziellen Zustupf für die Reise, damit wir unterwegs Projekte unterstützen können, die uns am Herzen liegen. Neben einer Spende für die Seenotrettung im Mittelmeer für SOS Mediterranee ist die Roddy Scott Foundation nun das zweite Projekt, das wir damit unterstützen können (vielen Dank!).

Das aktuelle Schulgebäude der Stiftung in Duisi
Das aktuelle Schulgebäude der Stiftung in Duisi

Melancholische Klänge

Die Kisten haben ihre reiche und lebendige Musiktradition bewahrt mit mehrstimmigen Gesängen und tief melancholischen Melodien. Sehr typisch sind die religiösen «Zikr»-Rituale, die jeweils von den Frauen freitags in der Moschee aufgeführt werden. Es ist eine Mischung aus Sufi-Tradition und Volksmusik mit minimaler instrumentaler Begleitung durch das Akkordeon oder die Mandalina (eine Art Balalaika). Während der Pandemie finden diese Rituale in der Moschee nicht statt, dafür kann Nazy extra für ihre Gäste ein kleines Konzert organisieren vom Aznash Laaman Ensemble.

Aznash Laaman Ensemble
Aznash Laaman Ensemble

Drei Generationen von Frauen sitzen mit ihren grünen Gewändern und weissen Kopftüchern vor uns und beginnen zu musizieren, eine Mischung aus religiösen Gesängen und traditionellen Stücken. Wir sind hin und weg von den ergreifenden Melodien und auch der Freude, welche die Frauen beim Singen und Musizieren verbreiten. Resolut ergreift eine der älteren Frauen plötzlich das Akkordeon, steht auf und tanzt durch den Raum. Wir dachten, dass die Frauen einfach hier in der Region auftreten und werden dann schnell eines Besseren belehrt, haben sie doch internationalen Erfolg und gaben auch schon Konzerte in der Schweiz und in Australien, wow.

Sei der Wandel, den du in der Welt sehen willst

Erneut sind es die Frauen im Pankisi-Tal, die uns überraschen. Sie sind die Vorhut der Entwicklung hier, setzen Ideen um und verändern das Tal zum Positiven. Wir ziehen unseren Hut vor diesen inspirierenden Menschen, die ihre Heimat verändern möchten und uns zutiefst imponiert haben. Wir glauben daran, dass ein nachhaltiger Tourismus mit Einbezug der lokalen Gemeinschaften viel Positives bewirken kann. Genau diese Erlebnisse bereichern unsere Reise ungemein und wir sind sehr dankbar, können wir so viel Neues über uns und die Welt lernen und werden wir regelmässig gezwungen unsere Vorurteile über Bord zu werfen und einfach nur zu staunen.

Nach fünf Tagen im Pankisi-Tal und vielen eindrücklichen Begegnungen geht es für uns weiter in das nächste Tal, in die abgelegene Bergregion Tuschetien, wo uns die anstrengendste Etappe der bisherigen Reise erwarten wird. Darüber mehr im nächsten Reisebericht.

Links für mehr Informationen über das Pankisi-Tal:

Falls ihr die Roddy Scott Foundation ebenfalls unterstützen möchtet, findet ihr hier die Bankverbindung für Überweisungen in Euro. Jeder noch so kleine Beitrag hilft ihnen, dieses wichtige Projekt weiterhin umsetzen zu können. Vielen Dank.

Das Tal befindet sich auf dem Weg in eine positive Zukunft
Das Tal befindet sich auf dem Weg in eine positive Zukunft

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